Dies ist die dritte Episode von Ännchen und ihre Väter, einem Episodenroman auf meinem Substack Krähen vor den Wolken.
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Viel Spaß beim Lesen.
Der Sand
Ännchen hielt Daumen, Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand in die Höhe.
„Ich fast so bin.“
„Fast?“, fragte ein bestimmt doppelt so altes Mädchen. „Das heißt, du bist so…“, stellte es fest und zeigte Daumen und Zeigefinger.
„Du bist nur zwei“, sagte ein Junge, fast schon beleidigt.
„Nein, ich fast so bin…“, beharrte Ännchen und wedelte ihre drei Finger vor den Augen der anderen herum.
„Ist doch egal. So oder so bist du noch klein“, sagte das älteste Kind, welches bisher nur neben dem Sandhaufen, der den Kindern als Spielplatz diente, auf einer kleinen Holzbank gesessen hatte.
Es hatte einen Verband an der rechten Hand und einen angespitzten Stock in der linken. Damit hatte es bis jetzt lustlos im Sand herumgeschabt. Nun holte es ein Messer hervor, um das Ende des Stockes neu anzuspitzen. Es fluchte immer wieder, weil der Verband es bei seiner Arbeit behinderte. Wiktor war sich sicher, dass es zum Aufpassen mit den Jüngeren mitgeschickt worden war. Hin und wieder hatte es eines der jüngeren Kinder ermahnt, wenn dieses mit Dreck geworfen oder einem anderen ein Spielzeug weggenommen hatte. Ännchen berichtete unterdessen ununterbrochen von ihrer Wanderung heute Vormittag. Dass sie in einem Bach geplanscht hatte. Dass sie einen Frosch gefangen hatte, der glipschig war, obwohl dies eigentlich an einem anderen Tag passiert war. Dass sie den Berg hier hoch fast ganz alleine gelaufen war. Dass sie dann erste hier war. Mit einem Schnauben pfefferte das Aufpasserkind den Stock auf den Boden, stand auf und stellte sich breitbeinig vor Ännchen. Sie schaute mit strengen Augen unter ihrem glatten, blonden Pony hervor. Wiktor merkte, wie sich sein Körper spannte, wie er sich ein wenig nach vorn lehnte, um schneller von dem alten Klappstuhl aufstehen zu können, auf dem er vor einem alten Wohnwagen saß.
„Du bist jetzt mal still! Du redest in einer Tour. Man kann sich ja nicht mal mehr selber denken hören.“
„Aber Ännchen wieder viel erzähl‘n hat.“
Wiktor schmunzelte. Plötzlich schienen die Eltern zu sprechen, formten sich deren Worte in den Mündern ihrer Nachkommen. Das ältere Kind schaute die kleine Zweijährige verdutzt an und setzte sich wieder auf seine Bank. Es wandte sich erneut seinem Stock zu und auch Ännchen beugte sich wieder über ihren Graben, den sie mit einer Schippe aushob, nun stiller als zuvor.
Wiktor ließ den Blick hoch zu den Kronen der Linden schweifen, die hier und da zwischen den Hütten und Bauwägen standen. Die ersten Blätter hatten sich bereits gelb gefärbt, auch wenn die meisten Kinder noch barfuß liefen. Der Sommer verweilte lang dieses Jahr. Wiktor sank tiefer in den Stuhl, lehnte seinen Kopf zurück, betrachtete nun wieder mit halb geöffneten Augen das Spiel der Kinder auf der anderen Seite des Kiesweges.
Nach einiger Zeit hörte er hinter sich das Knirschen von Schritten auf dem Kies. Außerdem ein regelmäßiges Quietschen. Beide Geräusche brachen links neben ihm ab. Ein Schatten legte sich über ihn.
„Wiktor, nicht wahr?“
Er schaute auf. Ein junger Mann mit schmutzig-blau-grauem Basecap war mit einer Schubkarre gekommen. Er trug eine ausgeblichene grüne Latzhose über einem einfachen Hemd und trotz des Wetters ein breites, gemustertes Halstuch. Die Haare waren kurz, der Bart stoppelig, das Gesicht ohne einprägsame Merkmale. Seine Augen huschten betreten von einer Seite zur anderen. Auf der Mütze war das Logo einer alten Automarke an vielen Stellen bereits abgeblättert.
„Ja. Und du bist Aro?“
Der Mann mit dem Käppi nickte.
„Und? Welche Felle wollt ihr haben?“
„Biber, Bisam und Wiesel nehmen wir alle. Und die beiden Wildschweinfelle auch. Alles zum vereinbarten Preis. Die ehrwürdige Mutter meinte, ihr seid ehrliche, rechtschaffene Leute. Deshalb würden wir auch die Waschbären eintauschen. Wir würden euch dafür die drei Dosen Trockenpflaumen, die Walnüsse und den Honig hier geben. Die Nüsse sind auch schon geknackt. Was meinst du?“
Während Aro sprach, zeigte er das entsprechende Tauschgut auf der Schubkarre. Außerdem waren darauf mehrere kleine Säcke mit verschiedenen Sorten Getreideflocken, die sie für die Herbstwanderung brauchten. Und Brennholz, welches sie in den nächsten beiden Tagen, wo sie hier Halt machten, verfeuern konnten, wenn sie es brauchten. Die Leute vom Stein achteten streng auf die Einhaltung ihrer selbstauferlegten Gebote der Gastfreundschaft. Stadtläufer und andere schutzsuchende Wanderer durften drei Nächte in der Siedlung rasten und ruhen. Wiktor überlegte kurz. Die Trockenpflaumen und die Walnüsse waren sicherlich vom letzten Jahr. Denn die Ernte der Pflaumen war in vollem Gange, die der Walnüsse stand kurz bevor. Dennoch war beides zusammen mit dem Honig mehr, als sie sich in anderen Siedlungen für die Waschbärfelle erhoffen konnten. Die meisten Gemeinschaften stellten selbst Fallen auf, da die Tiere sich nachts in die Dörfer schlichen, um im Abfall und den Vorräten zu räubern. Der Bedarf nach ihren Fellen war daher sehr gering. Hier schien das anders zu sein. Vielleicht gab es hier kaum Waschbären. Oder es gab niemanden in dieser Gemeinschaft, der sich auf das Kürschnerhandwerk verstand. Auch letztes Jahr schon, als sie das erste Mal hier waren, erhielten Joe und Wiktor vergleichsweise viel für ihre Pelze. Jetzt streckte Wiktor dem Mann mit der Mütze seine Hand entgegen.
„Abgemacht.“
Langsam, irgendwie widerwillig – als sei ihm die gereichte Hand zu schmutzig, dachte Wiktor – schlug Aro ein. Beide begannen daraufhin, die Schubkarre zu entladen. Wiktor brachte die kleinen Behältnisse mit Pflaumen, Honig und Nüssen in den Wohnwagen, der ihnen für ihren Aufenthalt in der Siedlung zur Verfügung gestellt wurde. Als er wieder zur Tür herausschaute, reichte ihm Aro den Sack mit den Haferflocken, den er ebenfalls nach drinnen stellte. Er ging erneut zur Tür. Und hörte im selben Moment ein kleines Kind weinen. Er erkannte sofort, dass es Ännchen war. Aro war bereits mit drei Schritten in Richtung der Kinder gelaufen, als Wiktor nach draußen trat.
„Domi, komm her!“
Das Aufpasser-Kind schob sich mit gesenktem Blick über den Weg auf die beiden Erwachsenen zu. Ännchen kam heulend hinterhergetapst und wurde von Wiktor auf den Arm genommen. Er streichelte ihr den Hinterkopf und tröstete sie: „Sch-sch-schhhhhh. Was ist denn passiert? Wo tut’s denn weh?“
„Da!“, jaulte sie und zeigte auf ihre Hand. „Das mich ‘haun hat.“
Ein schniefendes Luftholen. „Mit‘n Stock.“
Nun lag schon mehr Entrüstung als Schmerz in ihrer Stimme. Wiktor meinte, einen roten Striemen erahnen zu können. Der Stock war nicht besonders dick und wahrscheinlich hatte das Kind nicht besonders stark zugeschlagen, sonst wäre der Abdruck deutlicher zu sehen gewesen.
„Alles gut. Tut bald nicht mehr weh.“
„Was ist in dich gefahren? Du kannst doch nicht einfach das kleine Mädchen hauen!“, herrschte Aro das große Kind an.
„Aber… Es… Es hat mit Sand geworfen. Mehr- mehrmals“, stotterte es. „Und ich hab ganz oft gesagt, es soll aufhören. Und dann hat es mich an der Hand getroffen… Es ist sogar Sand unter den Verband gerutscht, wo der Schnitt ist.“
Wie zum Beweis zeigte es die verbundene Hand. Aro hob, fast schon erschrocken, die Augenbrauen. Doch sogleich gruben sich die Zornesfalten noch tiefer in seine Stirn. Grob drückte er ihre Hand nach unten.
„Trotzdem kannst du die Kleine nicht einfach hauen.“
„Aber wer anderen ein Leid antut, muss die Vergeltung im selben Maße erdulden. So sagt es die ehrwürdige Mutter. Strafe muss sein“, verteidigte sich Domi mit jammernder, vorwurfsvoller Stimme.
„Unsere geheiligten Gebote gelten nicht für Fremde. Sie wissen es nicht besser. Vor allem die Kleine nicht. Du kommst jetzt mit. Wir gehen zu deinen Eltern. Schon wieder so ein Ärger mit dir“, belehrte Aro das Kind und wandte sich danach an Wiktor. „Entschuldige bitte vielmals. Das kommt nicht wieder vor. Ich… Ich glaube, meine Frau hat Pflaumenkuchen gebacken. Ich bring nachher ein Stück vorbei für die Kleine, als Wiedergutmachung. Du… Schaffst du die Karre allein abzuladen? Geht das? Ich muss mit ihr los.“
Er nickte zum Kind, welches plötzlich gar nicht mehr so groß wirkte und mit den Tränen rang.
„Das ist unfair“, beklagte es sich.
„Sei jetzt still!“
„Alles gut“, beschwichtigte Wiktor. „Es ist doch nichts passiert. Ännchen weint doch auch gar nicht mehr. Oder Ännchen, so schlimm war es gar nicht?“
Ännchen vergrub ihr Gesicht in Wiktors Hals, ohne einen Laut von sich zu geben. Aro riss Domi Stock und Messer aus den Händen und marschierte davon. Das Kind trottete widerwillig hinterdrein, mit der linken Hand die verbundene rechte haltend. Wiktor vermeinte, dort ein bisschen Sand zu erkennen.
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